Wer schon einmal versucht hat, eine Tablette zu schlucken, weiß: Es ist nicht immer ein Vergnügen. Manche gleiten elegant hinunter wie ein Schluck Wasser, andere fühlen sich an, als wollten sie für immer im Hals stecken bleiben. Und für viele Menschen – besonders ältere oder von einem Schlaganfall Betroffene – ist das Schlucken von Tabletten eine echte Herausforderung. Die naheliegende Lösung scheint einfach: Man zerdrückt die Tablette, mischt sie in Apfelmus oder Joghurt, und schon ist die Sache erledigt. Doch was, wenn genau das keine gute Idee ist?
Die Studie, die mit einer alten Gewohnheit aufräumt
Eine neue Studie der Karl Landsteiner Privatuniversität Krems (KL Krems) stellt eine jahrzehntelang geübte Routine infrage. Das Forschungsteam um Michaela Trapl-Grundschober, Logopädin und Expertin für Schluckstörungen, fand heraus: Ganze Tabletten können bei Patientinnen und Patienten mit Schluckproblemen sicherer sein als zerkleinerte. Ja, richtig gelesen – sicherer.
Der Reflex: Zerkleinern, um zu schützen
Die Motivation, Tabletten zu zerdrücken, ist verständlich. Niemand möchte, dass sich jemand verschluckt. Gerade nach einem Schlaganfall, wenn Schluckstörungen (medizinisch „Dysphagie“) häufig auftreten, wird das Risiko ernst genommen – und das zu Recht.
Bis zu 75 Prozent aller Schlaganfallpatient:innen sind von solchen Schluckstörungen betroffen. Das bedeutet: Schon Wasser oder weiche Speisen können gefährlich werden, wenn sie „in die falsche Röhre“ geraten – also in die Luftröhre statt in die Speiseröhre. Die Folgen können Lungenentzündungen oder gar lebensbedrohliche Komplikationen sein.
Pflegekräfte und Angehörige greifen deshalb oft zum Mörser, um Tabletten zu zerkleinern. Ein Löffel Apfelmus dazu – und das Medikament scheint sicher eingenommen. Das ist Routine, Gewohnheit, fast schon Gesetz. Doch Routine ist nicht immer richtig.
Die Überraschung unter dem Endoskop
Die Forscher:innen der KL Krems wollten wissen, was wirklich passiert, wenn Menschen mit Schluckstörungen ganze oder zerkleinerte Tabletten schlucken.
60 Schlaganfallpatient:innen nahmen an der Untersuchung teil. Sie erhielten Placebo-Tabletten in verschiedenen Größen, teils im Ganzen, teils zermörsert, jeweils mit Apfelmus serviert. Und während sie schluckten, beobachtete das Team den gesamten Vorgang durch ein flexibles Endoskop – ein hauchdünnes Instrument, das durch die Nase eingeführt wird und direkte Bilder vom Rachen liefert.
Das Ergebnis war verblüffend
Ganze Tabletten glitten in den meisten Fällen problemlos in den Magen, ohne dass Speisebestandteile oder Flüssigkeit in die Atemwege gerieten.
Zerkleinerte Tabletten dagegen hinterließen deutlich mehr Rückstände im Rachen – besonders im Bereich hinter der Zunge, wo sich Speisereste unbemerkt ansammeln können.
Diese Rückstände sind kein harmloses Detail. Sie können dazu führen, dass Medikamente nicht vollständig aufgenommen werden – oder im schlimmsten Fall langsam in die Luftröhre geraten. Außerdem schmecken viele Wirkstoffe bitter, was den Schluckvorgang zusätzlich erschwert und Abwehrreaktionen auslösen kann.
Die Tablette ist (meist) besser konstruiert, als man denkt
Dass ganze Tabletten sicherer sein können, liegt auch an ihrer Form und Beschaffenheit. Tabletten sind keine beliebig zusammengedrückten Pulverklumpen – sie sind hochpräzise entwickelte Darreichungsformen.
Viele besitzen eine glatte Oberfläche, die das Schlucken erleichtert. Manche haben spezielle Überzüge, die sie magensaftresistent machen oder den Wirkstoff kontrolliert freisetzen. Wird eine solche Tablette zerdrückt, geht diese Schutzschicht verloren – mit potenziell gefährlichen Folgen.
Einige Wirkstoffe werden dann zu schnell freigesetzt, was Nebenwirkungen oder Überdosierungen verursachen kann. Andere werden zu früh abgebaut, bevor sie überhaupt dort ankommen, wo sie wirken sollen. Und wieder andere reagieren empfindlich auf Licht, Feuchtigkeit oder den pH-Wert von Lebensmitteln – all das kann sich ändern, wenn man sie in Apfelmus oder Joghurt einrührt.
Der Gedanke „zerkleinert = sicherer“ ist also oft chemisch und pharmakologisch falsch.
Der Apfelmus-Trick – mit Nebenwirkungen
Apfelmus gilt als das Allheilmittel gegen Schluckprobleme. Er ist weich, süß, gleitet gut – und wird daher gern als Trägermedium genutzt. Doch selbst hier lauern Fallstricke.
Der Brei kann die Freisetzung und Aufnahme von Medikamenten beeinflussen. Säuregehalt, Zucker, Temperatur – all das spielt eine Rolle. Manche Tabletten lösen sich im Apfelmus an, bevor sie überhaupt im Magen sind. Andere haften an der Schleimhaut, weil der Brei die Reibung verändert. Das bedeutet: Weniger Wirkstoff kommt dort an, wo er gebraucht wird.
Wenn Patient:innen wichtige Medikamente – etwa gegen Blutdruck, Gerinnung oder Depression – nur teilweise aufnehmen, kann das ihre gesamte Therapie aus dem Gleichgewicht bringen.
Wie man sicherer mit Tabletten umgeht
Was heißt das nun für den Alltag – zu Hause oder in der Pflege?
- Nie auf eigene Faust zerkleinern.
Manche Tabletten dürfen unter keinen Umständen geteilt oder zerdrückt werden (z. B. Retard- oder magensaftresistente Präparate). Immer Rücksprache mit Ärztin, Apotheker oder Logopädin halten. - Schluckfähigkeit testen lassen.
Bei Verdacht auf Schluckstörungen kann eine logopädische Untersuchung klären, welche Konsistenz sicher ist. Manchmal sind ganze Tabletten möglich, wenn sie mit weichen Speisen kombiniert werden. - Richtige Hilfsmittel nutzen.
Tablettenteiler sind präziser als Messer oder Löffel. Auch Tablettenschieber oder spezielle Gelhilfen können helfen, Tabletten sicher zu schlucken. - Apfelmus & Co. mit Vorsicht.
Nur verwenden, wenn das Medikament dafür geeignet ist – und nicht mit fetthaltigen oder sauren Lebensmitteln kombinieren, solange nicht geklärt ist, ob das Wechselwirkungen auslöst. - Pflegepersonal schulen.
Schulungen zur sicheren Medikamentenverabreichung bei Dysphagie sollten Pflicht sein. Evidenzbasierte Leitlinien müssen in die Routine integriert werden.
Die Studie aus Krems ist mehr als ein medizinisches Detail. Sie ist ein Weckruf. Ein Aufruf, Routinen nicht einfach weiterzuführen, nur weil sie sich „immer so gemacht haben“. In der modernen Medizin sollte jede Handlung auf Daten beruhen, nicht auf Bauchgefühl. Das gilt besonders, wenn es um etwas so Zentrales geht wie die Medikamentengabe.
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- Tabletten: iStockphoto.com/ monkeybusinessimages

