Offiziell ist der Winter die Zeit der Gemütlichkeit, der Kerzen, der Ruhe. Inoffiziell aber ist er eine Phase, in der Körper und Psyche unter Dauerbelastung stehen. Wir sprechen viel über Viren, Erkältungen, Grippewellen und Vitamin-D-Mangel – und übersehen dabei jene unspektakulären Alltagsfaktoren, die unser Immunsystem leise, aber nachhaltig schwächen. Nicht dramatisch genug für Schlagzeilen, nicht offensichtlich genug für Warnhinweise, aber wirksam genug, um uns anfälliger, müder und kränker durch die kalten Monate zu bringen.
1. Die stille Austrocknung in beheizten Räumen
Im Winter frieren wir draußen und vertrocknen drinnen. Während Kälte oft als Hauptproblem wahrgenommen wird, ist es in Wahrheit die trockene Heizungsluft, die unseren Körper angreift. In beheizten Wohnungen, Büros und öffentlichen Gebäuden sinkt die Luftfeuchtigkeit häufig auf extrem niedrigeWerte. Unsere Schleimhäute – die erste Verteidigungslinie gegen Viren und Bakterien – trocknen aus, verlieren ihre Elastizität und damit ihre Schutzfunktion.
Was viele nicht wissen: Trockene Schleimhäute sind nicht nur unangenehm, sie lassen Krankheitserreger leichter eindringen und schlechter abtransportieren. Gleichzeitig bleiben Viren in trockener Luft länger infektiös. Das bedeutet: Je gemütlicher wir es uns drinnen machen, desto schlechter sind oft die Bedingungen für unsere Abwehr.
2. Bewegungsmangel, der sich als Alltag tarnt
Niemand beschließt im Winter bewusst, sich weniger zu bewegen. Es passiert einfach. Das Fahrrad bleibt stehen, Spaziergänge werden kürzer, Wege werden optimiert. Der Winter erzeugt eine Illusion von Aktivität: Einkaufen, Termine, Weihnachtsstress. Doch objektiv sinkt die körperliche Bewegung bei vielen Menschen drastisch – oft ohne dass sie es merken.
Dabei ist Bewegung kein Lifestyle-Faktor, sondern ein biologischer Stimulus. Sie aktiviert Immunzellen, reguliert Entzündungsprozesse und verbessert die Durchblutung der Schleimhäute. Wer sich im Winter wenig bewegt, schwächt sein Immunsystem nicht durch ein Defizit, sondern durch das Fehlen eines wichtigen Aktivierungssignals. Der Körper schaltet in einen Sparmodus – genau dann, wenn er eigentlich leistungsfähig bleiben müsste.
3. Sozialer Stress hinter der Fassade der Festlichkeit
Der Winter gilt als Zeit der Nähe. Doch Nähe ist nicht automatisch wohltuend. Für viele Menschen bedeutet die Advents- und Weihnachtszeit ein dichtes Geflecht aus Erwartungen, Verpflichtungen, Mental Load und unausgesprochenen Konflikten. Familienrollen werden reaktiviert, alte Dynamiken tauchen auf, während gleichzeitig das Ideal der harmonischen Festtage im Raum steht.
Dieser Widerspruch erzeugt Stress – oft subtil, aber dauerhaft. Emotionaler Stress wirkt im Körper ähnlich wie physischer: Er erhöht den Cortisolspiegel, fördert Entzündungen und dämpft die Immunantwort. Das Gemeine daran ist, dass dieser Stress selten ernst genommen wird. Schließlich „müsste man sich doch freuen“. Der Körper jedoch unterscheidet nicht zwischen berechtigtem und unerlaubtem Stress.
4. Schlafmangel, der sich einschleicht
Der Winter verschiebt unseren Schlafrhythmus, ohne dass wir es bewusst steuern. Dunkle Abende, künstliches Licht, Serien, Smartphones und soziale Verpflichtungen verlängern die Wachzeit, während der Wecker unverändert früh klingelt. Das Ergebnis ist kein dramatischer Schlafentzug, sondern ein chronisches Minus von einer Stunde – Nacht für Nacht.
Medizinisch ist das relevant. Schon wenige Tage mit zu wenig Schlaf reduzieren die Aktivität jener Immunzellen, die für die Abwehr von Viren entscheidend sind. Gleichzeitig steigt die Entzündungsneigung im Körper. Schlaf ist keine passive Erholung, sondern aktive Immunarbeit. Wer im Winter dauerhaft schlecht schläft, betritt die Erkältungssaison mit deutlich geschwächter Abwehr – oft ohne es zu merken.
@thebraincoach Think about how nature works in the winter months. Animals rest more, trees stop growing for a while, and everything in the world seems to slow down. Our bodies are built to do the same ♥️ #psychology #winterblues #sad #wintervibes ♬ original sound – Dr. Nawal Mustafa
5. Das Leben im Innenraum
Im Winter verlagert sich unser gesamtes Leben nach drinnen. Arbeit, Freizeit, Sport, soziale Kontakte – alles findet in geschlossenen Räumen statt. Frische Luft wird zur Ausnahme, Tageslicht zur knappen Ressource. Dabei ist Sonnenlicht ein zentraler Taktgeber für unseren Hormonhaushalt, unseren Schlaf-Wach-Rhythmus und unsere Stimmung.
Der Mangel an natürlichem Licht kann schleichend wirken. Noch bevor sich eine Winterdepression entwickelt, treten Symptome wie Antriebslosigkeit, Reizbarkeit und erhöhte Infektanfälligkeit auf. Der Körper verliert seine zeitliche Orientierung. Er weiß nicht mehr genau, wann Aktivität und wann Regeneration vorgesehen ist – und reagiert mit Erschöpfung.
6. Dauerlärm als unterschätzter Stressor
Der Winter ist selten leise. Verkehr, volle Innenstädte, Weihnachtsmärkte, Musikbeschallung, Familienfeiern – all das erzeugt einen Geräuschpegel, der dauerhaft belastend sein kann. Lärm wird oft als nervig, aber harmlos abgetan. Tatsächlich aber ist er ein physiologischer Stressfaktor.
Dauerlärm hält den Körper in einem unterschwelligen Alarmzustand. Der Cortisolspiegel steigt, die Regeneration wird gehemmt, das Immunsystem gedrosselt. Besonders problematisch ist dabei, dass wir uns an Lärm gewöhnen, ohne dass der Körper aufhört, darauf zu reagieren. Die Belastung bleibt – auch wenn wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen.
7. Regelmäßiger Alkoholkonsum
Glühwein, Punsch, festliche Getränke – Alkohol gehört für viele selbstverständlich zum Winter. Das Problem ist weniger der einzelne Abend als die Regelmäßigkeit. Alkohol erweitert die Blutgefäße, was kurzfristig wärmt, langfristig aber den Wärmeverlust erhöht. Gleichzeitig stört er den Schlaf, beeinträchtigt die Immunfunktion und fördert Entzündungsprozesse.
Der winterliche Irrtum besteht darin, Alkohol als Teil der Entspannung zu sehen. Tatsächlich raubt er dem Körper genau jene Regenerationsphasen, die er in der kalten Jahreszeit dringend braucht. Besonders tückisch ist das „kleine Glas am Abend“, das zur Gewohnheit wird und kaum noch hinterfragt wird.
8. Einseitige Winterernährung
Viele Menschen essen im Winter sättigend, aber monoton. Mehr Weißmehl, mehr Zucker, weniger frische Vielfalt. Das betrifft nicht nur das bekannte Vitamin D, sondern eine ganze Reihe von Mikronährstoffen, die für die Immunabwehr entscheidend sind. Zink, Selen, Omega-3-Fettsäuren und sekundäre Pflanzenstoffe geraten leicht ins Hintertreffen.
Diese Defizite merken wir nicht sofort. Stattdessen sinkt die Widerstandskraft langsam, die Erholungsfähigkeit nimmt ab, Infekte dauern länger. Der Körper funktioniert noch – aber weniger effizient. Gerade das macht diese Risikofaktoren so schwer greifbar.
@jess.emma.s day 8 and we’re talking vitamin d, something most people in the uk/darker winter countries will become deficient in at this time of year eggs (but also fish and mushrooms) are high in vitamin d and make a great addition to your lunch time plate 🐣🩵💌✨#ibs #vitamind #guthealth ♬ Carefree Days – Peaceful Reveries
9. Präsentismus als gesellschaftliche Norm
Der Winter ist Hochsaison für ein paradoxes Verhalten: krank sein, aber trotzdem funktionieren. Aus Pflichtgefühl, aus Rücksicht oder aus Angst, etwas zu verpassen, gehen viele Menschen krank zur Arbeit oder zu familiären Verpflichtungen.
Präsentismus verlängert Krankheitsverläufe, erhöht das Risiko für Komplikationen und sorgt dafür, dass sich Viren besonders effektiv verbreiten. Die gesellschaftliche Botschaft ist klar: Durchhalten gilt mehr als Auskurieren. Der Körper zahlt dafür oft erst später die Rechnung.
10. Der psychologische Wintereffekt
Der Winter verengt unseren Handlungsspielraum. Weniger Licht, weniger Optionen, weniger Spontaneität. Studien zeigen, dass Menschen in den Wintermonaten weniger Entscheidungen treffen, stärker in Routinen verharren und körperliche Warnsignale länger ignorieren. Müdigkeit wird normalisiert, Schmerzen relativiert, Erschöpfung akzeptiert.
Dieser psychologische Effekt sorgt dafür, dass der Körper leise leidet. Symptome werden nicht bekämpft, sondern ausgehalten. Der Winter wird zur Durchhaltephase – statt zur Zeit bewusster Fürsorge.
Bildquellen
- Immunsystem & Risikofaktoren: iStockphoto.com/ Drazen Zigic

