Es beginnt oft leise. Ein spitzer Kommentar, ein Griff zu fest am Arm, ein Schubser, der wehtut, aber „nicht so gemeint“ war. Gewalt in der Jugend hat viele Gesichter – körperliche, seelische, digitale. Und sie hinterlässt Spuren, die nicht verblassen, wenn die blauen Flecken verheilt sind. Wer als Jugendlicher Gewalt erlebt, trägt die Erinnerung daran oft jahrelang mit sich herum – manchmal ein Leben lang.
Doch was passiert mit jungen Menschen, wenn ihr Vertrauen in andere – und oft auch in sich selbst – erschüttert wird? Und wie können sie lernen, wieder aufzustehen?
Gewalt, die niemand sehen will
In Österreich erlebt laut einer repräsentativen Befragung der Kinderschutzzentren “die möwe” fast jede:r zweite Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt – körperlich, psychisch oder sexualisiert. Die Dunkelziffer ist hoch.
Jugendliche, die Gewalt erleben, stehen oft vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen müssen sie das Erlebte verarbeiten – zum anderen mit den Reaktionen ihrer Umgebung umgehen. Viele schweigen, aus Scham oder Angst, nicht ernst genommen zu werden.
Studien zeigen, dass gerade in der Jugendphase Gewalterfahrungen besonders schwer wiegen können: In dieser Zeit entsteht das Vertrauen in Beziehungen, in sich selbst und in die eigene Handlungsfähigkeit. Wird dieses Vertrauen zerstört, kann das langfristige Folgen für die psychische Gesundheit haben.
Besonders belastend ist, wenn Täterinnen oder Täter aus dem nahen Umfeld stammen: aus der Familie, der Schule oder der Partnerschaft.
Ein neues Konzept: BEAR-Gruppentherapie
Fachleute warnen seit Jahren davor, dass betroffene Jugendliche oft zu spät Hilfe bekommen. Die Hürde, über Gewalt zu sprechen, ist hoch – und Therapieangebote sind vielerorts überlastet. Umso wichtiger sind neue, innovative Konzepte, die Jugendlichen den Zugang erleichtern.
An der Trauma- und Stress-Ambulanz (TRUST) der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Med Uni Wien und des AKH Wien wurde nun ein neuartiges Therapieangebot geschaffen: die sogenannte BEAR-Gruppenpsychotherapie.
BEAR bedeutet „Building Empowerment and Resilience“, also Stärkung und Widerstandskraft aufbauen. Das Programm wurde gemeinsam mit der Universität Stanford entwickelt und durch eine Spende des Rotary Club Wien-Stephansplatz ermöglicht. Es richtet sich an Mädchen und junge Frauen, die Gewalt erlebt haben, und verbindet Therapiegespräche mit Übungen zur Selbstbehauptung und Selbstverteidigung.
Die am Programm beteiligte Psychologin Lisa Kastberger erklärt: „Für uns war es wichtig, dass neben dem Bewältigen von Trauma-Inhalten auch das Element der Selbstermächtigung berücksichtigt wird, das Jugendlichen ermöglicht, aus der Opferrolle herauszutreten.“
Die Jugendlichen lernen nicht nur, über das Erlebte zu sprechen und es psychisch zu verarbeiten, sondern sie üben auch, ihre Grenzen wahrzunehmen, sich zu behaupten und sich körperlich zu verteidigen – in einem sicheren, therapeutisch begleiteten Rahmen.
Forschung und Praxis Hand in Hand
Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet, um seine Wirksamkeit zu untersuchen. Ziel ist es, herauszufinden, welche Elemente besonders hilfreich sind und wie das Angebot weiterentwickelt werden kann.
Das BEAR-Programm versteht sich nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu bereits bestehenden Therapieformen. Es soll neue Zugänge eröffnen – insbesondere für Jugendliche, die bisher Hemmungen hatten, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Das Programm startete Anfang Oktober 2025 und ist auf mehrere Durchgänge ausgelegt. Eine laufende Evaluation soll zeigen, wie gut die Kombination aus psychotherapeutischer Arbeit und körperlichem Empowerment funktioniert.
Warum Selbstermächtigung so wichtig ist
Der Begriff „Empowerment“ wird häufig verwendet – doch im Kontext von Traumatherapie bekommt er eine besonders tiefe Bedeutung. Gewalt bedeutet Kontrollverlust. Wer Gewalt erlebt, wird in einer Situation, die das eigene Handeln überfordert, ohnmächtig gemacht. Der Weg aus dem Trauma führt daher über die Wiedererlangung von Kontrolle – über sich selbst, über den eigenen Körper, über die eigene Geschichte.
In klassischen Traumatherapien steht oft die Verarbeitung des Erlebten im Vordergrund: das Erinnern, das Einordnen, das Reden. Das BEAR-Programm ergänzt diesen Ansatz um eine körperlich erlebbare Komponente. Wenn Jugendliche in einem geschützten Umfeld lernen, sich zu behaupten, klare Grenzen zu setzen oder eine Verteidigungshaltung einzunehmen, wirkt das tief in ihr Selbstbild hinein.
Dabei geht es nicht um Kampftraining, sondern um Selbstwahrnehmung und das Erleben von Stärke. Es sind kleine Momente – ein klarer Stand, ein lautes Nein, ein gezielter Griff –, die helfen können, wieder Vertrauen in den eigenen Körper zu fassen.
Trauma braucht Raum und Zeit
Traumatische Erfahrungen wirken auf verschiedenen Ebenen. Sie können das Denken, Fühlen und Verhalten beeinflussen, ohne dass Betroffene den Zusammenhang sofort erkennen. Viele Jugendliche berichten von plötzlichen Angstzuständen, innerer Leere oder dem Gefühl, „nicht ganz da“ zu sein.
Die Verarbeitung braucht Zeit – und Sicherheit. Ein geschützter Raum, wie ihn das BEAR-Programm bietet, kann hier entscheidend sein. Denn Heilung bedeutet nicht, das Erlebte zu vergessen, sondern es in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren, ohne dass es das gesamte Leben bestimmt.
Gewaltprävention beginnt mit Zuhören
Während spezialisierte Therapieangebote wie BEAR einen wichtigen Beitrag leisten, bleibt Prävention die langfristige Herausforderung. Gewaltprävention beginnt dort, wo Jugendliche früh lernen, ihre Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren – und wo Erwachsene hinsehen, wenn diese Grenzen überschritten werden.
Schulen, Jugendzentren, Sportvereine und Familien spielen dabei eine Schlüsselrolle. Je früher Signale erkannt werden, desto besser kann geholfen werden. Fachleute betonen, dass Zuhören oft der erste und wichtigste Schritt ist. Jugendliche müssen wissen, dass sie ernst genommen werden – und dass das, was ihnen passiert ist, nicht ihre Schuld ist.
Forschung, Mut und gesellschaftliche Verantwortung
Das neue Therapieangebot sendet eine klare Botschaft: Gewalt soll nicht das letzte Kapitel der Lebensgeschichte eines Jugendlichen sein. Durch gezielte Unterstützung, fachliche Begleitung und die Möglichkeit, sich aktiv zu stärken, kann aus Verletzlichkeit wieder Selbstvertrauen entstehen.
Diese Haltung prägt das gesamte Projekt – und sie gibt Hoffnung.
Kontakt und Information
Das BEAR-Programm wird an der Trauma- und Stress-Ambulanz (TRUST) der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie von MedUni Wien und AKH Wien durchgeführt.
Interessierte Jugendliche oder Eltern können sich direkt an die Ambulanz wenden:
📞 01 / 40400 – 30293
✉️ [email protected]
Das Angebot ist zunächst auf mehrere Durchgänge ausgelegt und wird fortlaufend evaluiert. Ziel ist, Jugendlichen nach Gewalterfahrungen einen sicheren Raum zu bieten – und neue Wege der Heilung zu eröffnen.
Bildquellen
- Gewalt gegen Jugendliche: Istockphoto.com/ uzhursky

