Die Illusion der Nähe: Wie Online-Dating die Einsamkeit verstärkt

Online Dating & Einsamkeit

Noch nie war es so einfach, neue Menschen kennenzulernen. Ein paar Wischbewegungen genügen, und schon erscheinen Gesichter, Namen, kurze Selbstbeschreibungen. Matches signalisieren Interesse, Chats suggerieren Kontakt. Und doch berichten immer mehr Menschen von einem paradoxen Gefühl: Sie sind ständig „im Austausch“ – und fühlen sich dennoch einsamer als zuvor. Zufall? Oder systembedingt? Der Psychologe Dr. Guido F. Gebauer hält Letzteres für wahrscheinlich. Seine Einschätzung ist klar: Online-Dating verstärkt Einsamkeit nicht trotz seiner Funktionsweise, sondern gerade wegen ihr.

Das trügerische Gefühl von Kontakt

Online-Dating vermittelt Aktivität. Wer swipet, matched und chattet, erlebt sich als sozial eingebunden. Psychologisch ist dieses Gefühl hochwirksam. Es beruhigt, erzeugt Hoffnung und verhindert kurzfristig das schmerzhafte Erleben von Alleinsein. Doch genau darin liegt das Problem.

„Dating-Apps erzeugen das Gefühl sozialer Aktivität und dies ist ein hochwirksamer Mechanismus, um Menschen auf den Plattformen zu halten. Für nicht wenige mündet das jedoch langfristig in Langeweile, Leere und Einsamkeit.“, sagt Gebauer.

Das Gehirn reagiert auf neue Matches wie auf kleine soziale Belohnungen. Man ist nicht allein – zumindest fühlt es sich so an. Tatsächlich aber fehlt das, was Einsamkeit reduziert: emotionale Tiefe, Verlässlichkeit, gegenseitige Präsenz.

So entsteht eine paradoxe Situation: Menschen sind ständig beschäftigt mit Kommunikation, erleben jedoch kaum echte Beziehung. Die Einsamkeit wird nicht gelöst, sondern überdeckt – bis sie umso stärker zurückkehrt.

Mehr Auswahl, weniger Nähe

Ein zentrales Versprechen des Online-Datings lautet: Auswahl. Je mehr Optionen, desto höher die Chance auf den passenden Menschen. Psychologisch jedoch wirkt diese Logik in die entgegengesetzte Richtung.

Zahlreiche Studien zeigen, dass bereits das Wissen um verfügbare Alternativen Bindung untergräbt. Wer glaubt, jederzeit etwas „Besseres“ finden zu können, investiert weniger in das Gegenüber. Gespräche bleiben oberflächlich, Kontakte abbrechbar, Menschen austauschbar.

Diese Struktur fördert Mehrgleisigkeit – parallele Kontakte, die sich gegenseitig blockieren. Aufmerksamkeit wird fragmentiert, emotionale Verbindlichkeit vermieden. Nähe entsteht jedoch nur dort, wo Exklusivität zumindest zeitweise möglich ist.

Das Ergebnis ist eine Form sozialer Überforderung: Viele Kontakte, aber keine Beziehung. Viel Kommunikation, aber wenig Verbundenheit.

Einsamkeit trotz permanenter Reize

Moderne Dating-Apps sind darauf ausgelegt, Nutzer:innen aktiv zu halten. Neue Profile, wechselnde Matches, unvorhersehbare Kontaktimpulse – all das erzeugt kurzfristige Dopaminausschüttungen. Das System belohnt Wiederkehr, nicht Beziehung. Gebauer beschreibt diesen Mechanismus als psychologisch besonders problematisch: „Menschen erleben sich als in Kontakt, bleiben faktisch jedoch allein.“

Die ständige Reizflut verhindert emotionale Verarbeitung. Gespräche beginnen, ohne sich entwickeln zu dürfen. Kaum entsteht Nähe, taucht die nächste Option auf. So bleibt man in Bewegung – und kommt nirgendwo an.

Langfristig führt dieses Muster zu emotionaler Erschöpfung und Online-Dating-Burnout. Viele Nutzer:innen berichten von Gleichgültigkeit, innerer Distanz und einem wachsenden Zynismus gegenüber anderen Menschen. Einsamkeit wird dabei nicht nur nicht gelindert, sondern intensiviert.

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Die Entwertung des Gegenübers

Ein weiterer, oft übersehener Effekt von Online-Dating ist die schleichende Entwertung menschlicher Begegnung. Profile werden gescannt, bewertet, aussortiert – oft innerhalb von Sekunden. Diese Praxis verändert Wahrnehmung und Haltung.

Wer permanent vergleicht, entwickelt eine Ablehnungsmentalität. Kleine Unstimmigkeiten reichen aus, um das Interesse zu verlieren. Das Gegenüber wird nicht mehr als komplexer Mensch wahrgenommen, sondern als Option unter vielen.

Diese Haltung wirkt sich auch außerhalb der Apps aus. Sie erschwert es, sich einzulassen, Geduld zu entwickeln oder Ambivalenzen auszuhalten. Doch genau diese Fähigkeiten sind zentral für Beziehung – und für das Erleben von Verbundenheit.

Einsamkeit entsteht nicht nur durch fehlende Kontakte, sondern durch fehlende Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Online-Dating trainiert oft das Gegenteil.

Die Gamifizierung der Einsamkeit

In der Forschung ist zunehmend von der Gamifizierung sozialer Beziehungen die Rede. Likes, Matches, Superlikes, Boosts – sie verwandeln menschliche Begegnung in ein Spiel. Und wie jedes Spiel ist es darauf ausgelegt, möglichst lange zu fesseln. Das Problem: Spiele erzeugen Spannung, aber keine Nähe.

Während Nutzer:innen immer wieder Hoffnung schöpfen, bleiben echte Beziehungen aus. Diese Diskrepanz ist psychologisch belastend. Sie verstärkt das Gefühl, ausgeschlossen zu sein oder nicht zu genügen – ein klassischer Nährboden für Einsamkeit.

Auffällig ist, dass große Dating-Plattformen kaum Daten darüber veröffentlichen, wie viele ihrer Nutzer:innen langfristig stabile Beziehungen eingehen. Der wirtschaftliche Erfolg der Apps steht in auffälligem Kontrast zur sozialen Bilanz. Denn wer eine erfüllende Partnerschaft findet, verschwindet aus dem System.

Wenn Suche zur Ersatzhandlung wird

Viele Menschen glauben, sie würden aktiv etwas gegen ihre Einsamkeit tun, indem sie Dating-Apps nutzen. Tatsächlich aber kann die Nutzung selbst zur Ersatzhandlung werden: Sie vermittelt Fortschritt, ohne ihn einzulösen. Gebauer beschreibt dieses Phänomen als besonders hinterhältig. Die Suche ersetzt das Finden. Aktivität ersetzt Beziehung. Hoffnung ersetzt Nähe.

So entsteht ein Kreislauf aus Nutzung, Frustration, Rückzug und erneuter Nutzung. Apps werden gelöscht, später wieder installiert. Nicht selten begleitet von dem Gefühl, persönlich gescheitert zu sein. Dabei ist Einsamkeit hier kein individuelles Versagen, sondern eine vorhersehbare Folge eines Systems, das Bindung strukturell erschwert.

Ein anderer Weg?

Dass es auch anders gehen könnte, zeigt Gebauer mit seiner Plattform Gleichklang, die bewusst auf viele gängige Mechanismen verzichtet. Keine schnellen Matches, keine Dauerstimulation, keine parallele Kontaktflut. Stattdessen gezielte Vorschläge, Verlangsamung und psychologische Passung.

Der Ansatz ist nicht darauf ausgelegt, Einsamkeit kurzfristig zu betäuben, sondern langfristig zu reduzieren – durch echte Beziehung. Ob dieses Modell massentauglich ist, bleibt offen. Doch seine Existenz macht eines deutlich: Online-Dating ist kein Naturgesetz. Es ist gestaltbar.

Die unbequeme Erkenntnis

Einsamkeit lässt sich nicht durch mehr Kontakte lösen, sondern durch tiefere. Nicht durch Auswahl, sondern durch Entscheidung. Nicht durch permanente Verfügbarkeit, sondern durch Präsenz. Vielleicht verstärkt Online-Dating Einsamkeit deshalb so effektiv, weil es uns vorgaukelt, wir seien verbunden – während wir uns in Wahrheit immer weiter voneinander entfernen.

In einer Welt voller Matches könnte die größte Herausforderung darin bestehen, wirklich bei einem Menschen zu bleiben. Und vielleicht beginnt der Weg aus der Einsamkeit nicht mit dem nächsten Swipe, sondern mit dem Mut, langsamer zu werden – und weniger zu suchen, um mehr zu finden.

Bildquellen

  • Online Dating & Einsamkeit: iStocphoto.com/ AsiaVision

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