Trauer ist ein Gefühl, das viele Menschen lieber vermeiden, weil es schmerzhaft, schwer und oft beängstigend wirkt. Doch genau dieses Gefühl birgt eine große Kraft: Es ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Wer Trauer nicht zulässt, schneidet sich von einem wichtigen Prozess der Heilung und des Neubeginns ab.
Im Gespräch mit Judith Gahleitner, Radiologietechnologin und Lebens- und Sozialberaterin mit Schwerpunkt Trauer und Psychoonkologie, wird deutlich, warum Trauer der Schlüssel zu einem gesunden Umgang mit Verlust ist.
Der frühe Blick auf Tod und Leben: Ein Schlüsselerlebnis
Schon in jungen Jahren beschäftigte sich Judith Gahleitner mit der Frage nach dem Tod. Mit 13 Jahren griff sie zu Raymond Moodys Buch „Leben nach dem Tod“, das ihr Denken prägte. Während andere Jugendliche sich mit Alltagsthemen wie Sport, Ausgehen oder Make-up beschäftigten, interessierte sie sich für das existenzielle Ende des Lebens. „Ich habe erkannt, dass Geburt und Tod die zwei Fixpunkte sind, die wir alle gemeinsam haben“, erzählt sie.
Diese frühe Auseinandersetzung hat ihr nicht nur die Angst vor dem Tod genommen, sondern auch den Blick auf das Leben geschärft. Wer sich bewusst macht, dass das Ende unausweichlich ist, beginnt, das Leben intensiver wahrzunehmen.
Für Gahleitner gehört Trauer deshalb untrennbar zum Leben. Der Tod von Familienangehörigen und Freunden hat sie gelehrt, Trauer nicht als Ausnahmezustand, sondern als Teil der menschlichen Existenz zu begreifen. „Trauer betrifft jeden Menschen – und zwar nicht nur einmal, sondern mehrmals im Laufe des Lebens“, erklärt sie. Genau deshalb sei es so wichtig, dass wir lernen, uns damit auseinanderzusetzen, anstatt sie zu verdrängen.
Warum Trauer nicht das Problem, sondern die Lösung ist
Viele Menschen empfinden Trauer als Last, die sie möglichst schnell loswerden wollen. „Trauer schmerzt auf allen Ebenen – körperlich, seelisch und mental“, sagt Gahleitner. Doch gerade dieser Schmerz ist notwendig, um einen Verlust zu verarbeiten. Sie zitiert dabei die Trauerforscherin Chris Paul: „Trauer ist nicht das Problem, sie ist die Lösung.“
Das Verdrängen hingegen führt zu innerem Druck: Gefühle wie Wut, Schuld oder Ohnmacht lassen sich nicht dauerhaft unterdrücken – sie verhalten sich wie ein aufgeblasener Ballon unter Wasser, der irgendwann unkontrolliert nach oben schießt. Besonders Männer, so Gahleitner, neigen eher dazu, ihre Emotionen mit Aktivität zu überdecken.
Frauen zeigen Gefühle oft unmittelbarer, doch auch sie sind nicht davor gefeit, Trauer wegzuschieben. Das Ergebnis ist in beiden Fällen ähnlich: Früher oder später bricht das Verdrängte mit großer Wucht hervor – und erschwert das Weiterleben.
Deshalb gilt: Wer den Schmerz zulässt, öffnet sich zugleich der Heilung. Durch das bewusste Erleben von Trauer können Menschen Schritt für Schritt wieder handlungsfähig werden. Gahleitner vergleicht dies mit einem Navigationsgerät: „Damit ich ans Ziel komme, muss ich zuerst meinen Standort festlegen. Ich frage: Wo bin ich? Wer bin ich heute? Was sind meine Ressourcen?“ Erst wenn dieser Ausgangspunkt klar ist, kann sich ein neuer Lebensweg erschließen.
Ehrliche Worte, Rituale und das Pendeln zwischen Tun und Fühlen
Ein zentraler Aspekt in Gahleitners Arbeit ist die Sprache. Klare und ehrliche Worte helfen Trauernden, die Realität des Verlustes zu begreifen. Manchmal reichen schon Sätze wie „Das ist furchtbar“ oder „Das ist schmerzhaft“ – Anerkennung des Leids schafft Vertrauen und Halt. Gleichzeitig ist Schweigen oft genauso wichtig. „Manches Leid braucht keine Worte, sondern nur Anerkennung und Wertschätzung“, betont sie.
Neben Worten spielen auch Rituale eine große Rolle: Briefe schreiben, ohne sie abzuschicken, bestimmte Musik hören oder Fotos ordnen – all das sind Wege, um Gefühle zu sortieren und wieder Handlungsspielraum zu gewinnen. Solche Methoden holen Betroffene aus der Ohnmacht heraus und schaffen Strukturen, die Halt geben.
Gahleitner arbeitet zudem nach einem Modell, das zwischen Tätigkeiten und Trauerphasen pendelt. Wer ausschließlich trauert, bleibt in Lähmung stecken – wer ausschließlich funktioniert, verdrängt die Gefühle. Gesund sei ein Wechsel zwischen beiden Polen: kleine Aktivitäten wie Kochen, ein Spaziergang oder das Ordnen einer Schublade schenken Erfolgserlebnisse. Diese Balance verhindert, dass Trauer blockiert – und ermöglicht zugleich, dass sie heilsam wirkt.
Die Rolle von Familie, Gesellschaft und professioneller Begleitung
Trauer ist zwar ein individueller Prozess, doch er braucht ein soziales Netz. „Familie und Freunde sind das Fundament, auf das wir uns stützen können“, erklärt Gahleitner. In ihrer Praxis lädt sie manchmal Angehörige zu Gesprächen ein, um Missverständnisse zu klären und Unterstützung zu fördern. Denn wer über seinen Schmerz spricht, merkt oft, dass er nicht allein ist – ein entscheidender Schritt zur Entlastung.
Auch die Gesellschaft spielt hier eine wesentliche Rolle. Noch immer gilt Trauer häufig als privates Thema, über das man schweigt. Gahleitner plädiert dafür, diesem Gefühl mehr Raum zu geben: „Redet über eure Trauer – mit Familie, Freunden, Kollegen, mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, und mit Professionisten.“
Besonders in der Psychoonkologie zeigt sich, wie wichtig dieser Austausch ist. Dort geht es nicht nur um den Verlust eines Menschen, sondern auch um die Trauer über verlorene Zukunftsträume, Veränderungen des Körpers und die existenzielle Bedrohung durch Krankheit.
Ihre Erfahrungen im Hospiz haben Gahleitner zusätzlich geprägt. Sie weiß, dass Sterben und Trauer so vielfältig sind wie das Leben selbst. Jedes Erlebnis ist einzigartig und verlangt nach individueller Begleitung. Doch eines bleibt gleich: Der Prozess gelingt besser, wenn Menschen ihre Gefühle teilen dürfen und dabei auf offene Ohren stoßen.
Kleine Schritte zu einem großen Ziel: Trauer zulassen und integrieren
Trauer verschwindet nicht einfach, sie verändert sich: Viele Menschen, die einen großen Verlust erlitten haben, sind auch nach Jahren noch fassungslos. Gahleitner sieht ihre Aufgabe darin, den großen Berg an Emotionen und Anforderungen in kleinere, bewältigbare Teile zu zerlegen. Das kann so praktisch sein wie die Frage: „Wer holt das Kind von der Schule ab?“ oder „Was hat jetzt Priorität?“ – aus solchen kleinen Schritten entsteht langsam ein neuer Alltag.
Wichtig ist dabei, Trauer nicht zu umgehen, sondern in den Alltag zu integrieren. Gefühle wie Wut, Scham oder Schuld dürfen ebenso Raum bekommen wie tiefe Traurigkeit. Wenn alle Emotionen gesehen werden, blockieren sie nicht länger, sondern werden Teil des Heilungsweges. Gahleitner beschreibt es so: „Durch kleine Schritte schaffen wir Großes.“ Schon eine einfache Tätigkeit wie das Pflanzen einer Blume oder das Anlegen eines Fotobuches kann das Vertrauen in das Leben zurückbringen.
Besonders eindrücklich war für sie der Fall, in dem sie gemeinsam mit einer Kinderpsychologin ein sechsjähriges Mädchen und ihre Mutter in der Trauer begleitete. Gemeinsam stellten sie mit Figuren die Nacht nach, in der der Vater des Mädchens starb. Dadurch konnte das Kind symbolisch Abschied nehmen – etwas, das ihm im echten Leben verwehrt geblieben war. „Die Erleichterung der Mutter und des Mädchens war spürbar und sichtbar“, erzählt Gahleitner. Solche Momente zeigen, wie wichtig es ist, Trauer Raum zu geben. Denn sie ist nicht das Ende, sondern ein Anfang: der Beginn eines neuen, veränderten Lebens.
Bildquellen
- Trauer zulassen: iStockphoto.com/ iiievgeniy

