Immersive Erlebnisse erleben derzeit einen regelrechten Boom – besonders in urbanen Räumen entstehen immer mehr Orte, die solche Erfahrungen möglich machen, wie etwa das Ikono Vienna. Im Mittelpunkt steht dabei eines: Räume aus Licht, Klang, Bewegung und Interaktion, in denen Besucher:innen scheinbar in eine andere Welt eintauchen – und sich dabei doch ganz nah bei sich selbst wiederfinden.
Was einst als Kunst- oder Unterhaltungsformat begann, wird zunehmend als psychologisch wertvolles Erlebnis verstanden: ein Moment, in dem Denken zurücktritt und Fühlen Vorrang bekommt.
Doch was passiert dabei im Gehirn wirklich? Können solche multisensorischen Erfahrungen sogar therapeutische Wirkung entfalten oder psychische Stabilität fördern? Die Wiener Psychotherapeutin Luisa Pressl von der Praxis am Ring hat sich intensiv mit den neurobiologischen und psychologischen Mechanismen immersiver Erlebnisse beschäftigt.
Im Interview erklärt sie, wie sie das Gehirn „neu sortieren“, warum sie Kreativität anregen und welche Chancen sie für die Zukunft der Psychotherapie bieten.
Immersive Erlebnisse: Wenn das Gehirn auf „Präsenz“ schaltet
„Ich beschreibe immersive Erlebnisse als eine Art Reset, weil sie tatsächlich dafür sorgen, dass unser Gehirn kurzzeitig aus dem gewohnten Denkmodus aussteigt“, erklärt Pressl. Normalerweise ist unser sogenanntes Default Mode Network aktiv – jenes Netzwerk, das für Selbstreflexion, Grübeln und innere Dialoge zuständig ist. In immersiven Momenten wird es heruntergefahren, während Regionen aktiv werden, die mit Sinneswahrnehmung, Orientierung und Präsenz zu tun haben.
Dieser Zustand ist neurobiologisch gesehen eine Art Neuorganisation. Unser Gehirn verlässt für kurze Zeit den Zustand ständiger Selbstbeobachtung und kognitiver Daueranspannung. Viele Menschen berichten danach, sie hätten sich „endlich einmal wieder ganz da“ gefühlt – als würde der Kopf kurz aufatmen und der Körper übernehmen.
Neurowissenschaftlich betrachtet ist das keine Flucht aus der Realität, sondern eine Rückkehr in sie. Indem das Denken leiser wird, tritt die Wahrnehmung in den Vordergrund. Der Geruch, das Licht, die Textur einer Oberfläche – alles gewinnt an Intensität. Das Gehirn ordnet sich neu, und genau das kann therapeutisch wirksam sein: Es unterbricht automatische Gedankenschleifen, die sonst oft Grundlage von Stress und Angst bilden.
Außen statt innen: Warum Immersion anders wirkt als Meditation
Viele vergleichen immersive Erfahrungen mit Meditation. Doch die Mechanismen unterscheiden sich deutlich. „Bei Meditation lenken wir die Aufmerksamkeit bewusst nach innen, spüren den Körper, beobachten Gedanken und konzentrieren uns auf den Atem“, sagt Pressl. Das beruhigt den Parasympathikus und hilft, Spannungen abzubauen.
Immersive Erlebnisse dagegen führen nach außen. „Farben, Klänge oder Bewegungen übernehmen dabei die Funktion, die in der Meditation oft der Atem hat. Sie holen uns automatisch in den Moment“, so Pressl weiter.
Psychologisch betrachtet aktiviert dieser Prozess andere neuronale Schaltkreise: statt kontrollierter Selbstbeobachtung dominiert spontane Sinnesaufnahme. Wo Meditation Konzentration verlangt, bietet Immersion Hingabe. Es entsteht ein Zustand, in dem die Sinne den Takt angeben – und das Ich sich für einen Moment zurücknimmt.
Interessanterweise berichten viele Teilnehmer:innen solcher Erlebnisse, dass sie ähnliche Nachwirkungen wie nach einer Meditation spüren: innere Ruhe, erhöhte Klarheit, leichte Euphorie. Der Unterschied liegt in der Richtung des Weges dorthin – von außen nach innen statt umgekehrt.
Sinnliche Prävention: Wie Immersion psychische Gesundheit stärken kann
In einer Zeit, in der Depressionen und Angststörungen weltweit zunehmen, werden neue Wege gesucht, um präventiv gegenzusteuern. Pressl sieht in immersiven Erlebnissen einen wichtigen Ansatzpunkt: „Viele Menschen haben den Kontakt zu ihren Sinnen verloren, leben stark im Kopf oder in digitalen Umgebungen. Immersive Erlebnisse holen sie da heraus. Sie aktivieren Wahrnehmung, Neugier und Emotionen auf eine unmittelbare, körperlich spürbare Weise.“
Diese Rückkehr zu den Sinnen ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Psychische Stabilität entsteht nicht allein durch kognitive Kontrolle, sondern durch die Fähigkeit, Freude, Neugier und Staunen zu empfinden. „Wenn wir regelmäßig solche Erfahrungen machen, trainieren wir im Grunde unsere Fähigkeit, Freude, Neugier und Staunen zu empfinden. Das sind wichtige Schutzfaktoren für psychische Stabilität“, so Pressl.
Die Forschung bestätigt zunehmend, dass multisensorische Erfahrungen emotionale Lernprozesse fördern. Sie aktivieren dopaminerge Bahnen, die mit Motivation und Entdeckung verknüpft sind, und stärken so den psychischen „Spieltrieb“ – eine Ressource, die bei vielen Erwachsenen verkümmert. Immersive Erlebnisse können so zu einem mentalen Training werden, das uns lehrt, wieder zu fühlen und zu staunen – eine Art seelische Physiotherapie.
Dopamin, Serotonin & Co.: Das biochemische Konzert der Freude
Das Gefühl der Begeisterung, das viele Besucher immersiver Räume erleben, hat eine klare neurochemische Basis. „Dopamin ist weniger der Glücksstoff, als der oft beschrieben wird. Es wird nicht dann ausgeschüttet, wenn wir etwas bekommen, sondern wenn wir etwas erwarten oder etwas Neues entdecken“, erklärt Pressl. Dieses Hormon signalisiert dem Gehirn: Bleib dran, das könnte spannend werden.
Immersive Erlebnisse schaffen genau diese Erwartungssituation. Sie sind voller Überraschungen, Bewegung, Klang und visueller Übergänge, die das Belohnungssystem aktivieren. Doch das eigentliche Wohlgefühl entsteht erst durch die Zusammenarbeit verschiedener Systeme: Serotonin vermittelt Zufriedenheit, Oxytocin soziale Nähe – gemeinsam erzeugen sie jenes Nachglühen, das viele nach immersiven Erlebnissen beschreiben.
Psychologisch bedeutet das: Das Gehirn erlebt ein kontrolliertes Abenteuer. Es fühlt sich angeregt, aber nicht überfordert, neugierig, aber sicher. Diese Balance von Aktivierung und Geborgenheit ist eine ideale Grundlage, um positive Emotionen zu verankern – und sie könnte erklären, warum solche Erfahrungen oft lange nachwirken.
Kreativität und Inspiration: Wie Immersion neue Verbindungen schafft
Der Zusammenhang zwischen Entspannung und Kreativität ist gut erforscht. Doch immersive Erfahrungen können diesen Prozess intensivieren. „Zuerst beruhigen sie das System, dann eröffnen sie durch neue sensorische Eindrücke wieder Spielraum für Assoziation“, erklärt Pressl.
Das bereits erwähnte Default Mode Network wird zunächst heruntergefahren – Grübeln und Selbstreflexion weichen der unmittelbaren Wahrnehmung. Danach, wenn der Geist sich wieder öffnet, können Ideen freier fließen. „Man könnte sagen: Erst wird das Grübeln gestoppt, dann beginnt das kreative Denken“, so Pressl weiter.
In der Praxis berichten viele Menschen nach immersiven Erlebnissen von neuen Perspektiven oder plötzlichen Einfällen – oft ohne bewusst nachgedacht zu haben. Kreativität, so Pressl, „entsteht selten im Denken – sie entsteht im Dazwischen.“
Dieser Satz beschreibt ein zentrales Prinzip der modernen Kreativitätsforschung: Ideen entstehen nicht aus Anstrengung, sondern aus Offenheit.
Zwischen Überreizung und Kohärenz: Die Kunst der Balance
Unsere Welt ist laut, hell und permanent online. Die Angst, durch zusätzliche Reize überfordert zu werden, liegt daher nahe. Doch Pressl differenziert: „Der Unterschied liegt in der Art der Reize. In immersiven Räumen sind sie meist harmonisch aufeinander abgestimmt. Sie schaffen Kohärenz statt Chaos.“
Während digitale Überreizung das Nervensystem fragmentiert – ständig neue Reize, ohne Zusammenhang –, erzeugen immersive Räume Kohärenz. Licht, Klang und Bewegung sind rhythmisch und sinnlich verbunden. Das Gehirn nimmt diese Übereinstimmung als Sicherheit wahr.
„In der Therapie sehe ich oft, dass Menschen nicht reizempfindlich sind, sondern reizüberfordert, weil sie kaum echte Pausen erleben“, so Pressl. Bewusst eingesetzte Reize können das Gegenteil von Stress bewirken: Sie helfen, Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zurückzugewinnen.
Balance, sagt Pressl, bedeute also nicht Reizvermeidung, sondern bewusster Umgang. Wer lernt, Reize als Rhythmus und nicht als Dauerbeschuss zu erleben, findet in der Welt wieder Ruhe – nicht trotz, sondern durch Wahrnehmung.
Ausblick: Vom Erlebnis zur Heilung
Die Zukunft immersiver Erlebnisse könnte also weit über Kunst und Unterhaltung hinausreichen. Pressl sieht darin „großes Potenzial, vor allem im Zusammenhang mit ADHS, Depressionen und Trauma“. Bei ADHS könne die starke Sinnesaktivierung helfen, Fokus und Regulation zu fördern und bei Depressionen gehe es darum, wieder Lebendigkeit und emotionale Resonanz zu spüren. Den Körper sicher zu aktivieren, ohne Überforderung, wäre der Ansatz bei Traumata.
Entscheidend ist, dass solche Erfahrungen achtsam gestaltet und therapeutisch eingebettet werden. Immersion um der Reize willen sei nur Überforderung in neuer Verpackung. Doch Immersion als bewusst inszenierter Erfahrungsraum könne Heilung anstoßen – leise, durch Wahrnehmung, durch Staunen.
Die Psychologin sieht darin jedoch kein Wundermittel, sondern eine neue Sprache des Erlebens. „Psychotherapie arbeitet immer mit Sprache und Beziehung, aber das Erleben findet im Körper statt.“ Genau hier, an der Schnittstelle von Sinn und Gefühl, entsteht die Zukunft psychologischer Arbeit: körpernah, erfahrungsorientiert und sinnlich intelligent.
Immersive Erlebnisse: Die Rückkehr zu den Sinnen
Immersive Erlebnisse zeigen, wie tief die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Psyche reicht. Sie unterbrechen das mentale Dauerrauschen, fördern Präsenz und öffnen uns für Freude und Neugier – Grundemotionen, die psychische Stabilität tragen.
Für Luisa Pressl ist die Botschaft klar: Immersion ist keine Flucht aus der Realität, sondern eine Rückkehr in sie. Sie erinnert uns daran, dass Bewusstsein mehr ist als Denken – es ist Fühlen, Hören, Sehen, Staunen.
In einer Welt, die immer schneller, lauter und kälter wird, könnte gerade diese Art des Erlebens ein Gegengewicht schaffen. Immersive Erfahrungen laden uns ein, für einen Moment nichts zu wollen, sondern einfach zu sein – und genau darin liegt, psychologisch gesehen, ihre größte Heilkraft.
Bildquellen
- Immersive Erlebnisse: Istockphoto.com/ Thinkhubstudio

