Du meldest dich zu einem Yogakurs an – und plötzlich bist du Teil einer Sekte. So erging es zahlreichen Frauen, deren erschütternde Erfahrungen und persönlichen Erlebnisse nun in einem Buch zusammengetragen wurden. Manipulation und Machtmissbrauch in spirituellen Gruppen bleiben oft unsichtbar – doch investigative Journalistinnen wie Christiane Hawranek und Katja Paysen-Petersen decken die internationale Yogasekte Atman auf, in der junge Frauen systematisch gebrainwasht und zu stundenlangen Tantra-Sex-Ritualen gezwungen wurden.
In unserem ausführlichen Interview berichtet eine der beiden Autorinnen von “Toxic Tantra”, Christiane Hawranek, über systematische Missstände, psychologische Manipulation und sexualisierte Ausbeutung junger Frauen. Das neue Buch (Erscheinungstermin: 30.10.2025) dokumentiert die Geschichten von Frauen, die mit absurden Heilsversprechen geködert und in ein komplexes Kontrollsystem hineingezogen wurden.
„Am Ende der Recherche hatte ich das Gefühl, hier geht es eigentlich gar nicht um Yoga, sondern um Kontrolle“, erzählt uns Hawranek. Dieses einfache, aber erschütternde Statement fasst zusammen, was Tausende Frauen in Atman erleben mussten.
Zwischen Spiritualität und Kontrolle: Die dunkle Yoga-Seite
Atman präsentiert sich zunächst harmlos: Meditation, Atemübungen, ein Gefühl von Gemeinschaft. Die ersten Treffen wirken wie jeder andere Yogakurs. Doch diese Fassade trügt: Hinter dem freundlichen Lächeln der Lehrer:innen und der friedlichen Musik verbirgt sich ein striktes, manipulativen Kontrollsystem.
Guru Gregorian Bivolaru, der Kopf der Bewegung, setzte psychische und körperliche Manipulation gezielt ein, um die Frauen zu kontrollieren. „Die Frauen waren völlig isoliert. Alles, was außerhalb der Gruppe war, wurde als gefährlich dargestellt“, erklärt Hawranek. Junge Frauen wurden zu Bivolaru nach Paris gebracht und in sogenannte Tantra-Rituale eingebunden – stundenlange, sexualisierte Handlungen unter strenger Überwachung. Wer Zweifel äußerte, wurde sanktioniert, wer sich weigerte, beschämt oder bedroht.
Lilly*, eine Betroffene, erinnert sich: „Ich dachte, ich lerne nur Yoga – dann war mein Leben komplett fremdbestimmt.“ Das System der Sekte folgte einem klaren Muster: Kontrolle, Isolierung, ideologische Überzeugung und schließlich sexuelle Ausbeutung. Viele Frauen berichten von einem Gefühl der Ohnmacht, das sich über Monate oder Jahre erstreckte, bis sie einen Weg aus der Gruppe fanden.
Im Interview erfahren wir, dass der Guru selbst schon über 70 Jahre alt ist – und mittlerweile Gegenstand von Ermittlungen. Vergewaltigung und Menschenhandel lauten die Vorwürfe, die Yogasekte Atman weist die Vorwürfe jedoch auf Nachfrage entschieden zurück.
Ausgangspunkt der Recherche: Ein Einzelfall öffnet die Tür
Die investigative Arbeit von Hawranek und Paysen-Petersen begann mit einer einzelnen Betroffenen, die zu den beiden Journalistinnen ins Büro kam und detailliert von einer Yogaschule in München berichtete.
Was zunächst harmlos wirkte – Atemübungen, Meditation, scheinbar freundliche Lehrer:innen – entwickelte sich schnell über Gruppenzwang und psychologische Manipulation zu extremen Ritualen. Dazu gehörten neben dem Tantrasex mit dem Guru auch Kontrolle über Geld und Handys sowie Isolation von Familie und Freunden.
Der Ansatz für “Toxic Tantra” war akribisch: Die beiden renomierten Journalistinnen interviewten insgesamt 45 Aussteiger:innen, dokumentierte physische Beweise wie Fotos aus Yogaräumen und besuchte ehemalige Rekrutiererinnen, um die Aussagen der Opfer zu verifizieren.
Individuelle Erfahrungen: Zwei Fallgeschichten
In unserem Interview erzählt die Journalistin Christiane Hawranek von zwei besonders eindrücklichen Fallgeschichten junger Frauen, die in die Sekte Atman geraten sind.
Lilly: Die Hauptprotagonistin wurde nach Paris gebracht, direkt unter die Kontrolle des Gurus. Dort musste sie an den sogenannten Tantra-Ritualen teilnehmen – stundenlange, sexualisierte Handlungen, streng überwacht und ohne Möglichkeit, sich zu wehren. Die Isolation in Paris und der ständige Druck hinterließen tiefe Spuren, die lange therapeutisch aufgearbeitet werden mussten.
Miranda: Sie wurde in ein spezielles Haus, das „Garden of Miracles“, gelockt. Dort sollte sie unter dem Vorwand einer „erotischen Revolution“ als Camgirl arbeiten. Strenge Regeln, ständige Kontrolle und Sanktionen bei Missachtung führten zu langer Isolation.
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Die Sekte funktionierte bei Betroffenen nach einem klaren, manipulativen Muster:
- Isolation: Handys und Geld wurden beim Guru-Besuch in Paris abgegeben, Kontakte zur Außenwelt abgeschnitten.
- Kontrolle: Anfangs Love-Bombing – übertriebene Aufmerksamkeit und Freundlichkeit –, später strenge Regeln, Sanktionen und ideologische Überzeugung.
- Sexuelle Ausbeutung: Teilnahme an Tantra-Ritualen, oft unter Zwang und strenger Überwachung.
Die Recherchen zeigen, dass diese Struktur besonders gefährlich ist, weil sie schrittweise funktioniert. Viele Betroffene merken nicht sofort, dass sie kontrolliert werden – die Manipulation geschieht subtil und stufenweise.
Wirkung und Ziel des Buches
Das Buch von Hawranek soll Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind. Es erklärt Muster von Manipulation, sensibilisiert für Warnsignale und zeigt Wege, sich selbst zu schützen. Die Geschichten werden aus Sicht der Opfer erzählt, 100 % faktisch recherchiert, keine Fiktion.
„Es geht nicht darum, Yoga zu verteufeln“, erklärt Hawranek. „Es geht darum, die Mechanismen der Kontrolle sichtbar zu machen, damit Frauen (und Männer) sich selbst schützen können.“
Die Probleme der Sekte spiegeln gesellschaftliche Themen wider: Schönheitsdruck, Konkurrenz zwischen Frauen, Erwartungen an Selbstaufopferung und „People-Pleasing“. Spirituelle Gruppen und Social-Media-Retreats boomen, doch Manipulation wird oft erst spät erkannt.
Green Flags: So erkennt man gesunde Spiritualität
Doch: Nicht jede Yogagruppe oder spirituelle Gemeinschaft ist natürlich gefährlich – es gibt klare Anzeichen dafür, dass man in sicheren Händen ist. Hawranek betont, dass Transparenz, Respekt und Freiwilligkeit entscheidend sind.
- Transparente Strukturen: Abläufe, Regeln und Kosten werden offen kommuniziert, keine Geheimnisse oder versteckten Verpflichtungen.
- Gleichberechtigung: Alle Teilnehmenden haben die gleichen Rechte und Pflichten, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, niemand wird bevorzugt oder isoliert.
- Einverständnis bei körperlichen Übungen: Jede Praxis, die körperliche Nähe oder Intimität erfordert, geschieht ausschließlich auf freiwilliger Basis und unter klarer Zustimmung.
- Offene Kommunikation: Kritik, Zweifel oder Rückfragen werden ernst genommen, kein Druck, sich anzupassen oder Schweigen zu bewahren.
- Respekt vor Außenkontakten: Freundschaften, Familie und berufliche Verpflichtungen werden nicht eingeschränkt oder abgewertet.
Green Flags signalisieren: Hier geht es wirklich um Yoga, Selbstentwicklung und Gemeinschaft – nicht um Kontrolle, Manipulation oder Ausbeutung. Wer diese Anzeichen erkennt, kann mit Vertrauen teilnehmen und die positive Kraft von Spiritualität erleben.
Warnsignale erkennen, Verantwortung übernehmen
Yoga und Spiritualität können bereichernd sein – doch in falschen Händen werden sie zu Kontrollinstrumenten. Isolation, Kontrolle, ideologische Manipulation und sexuelle Ausbeutung sind zentrale Warnsignale.
“Toxic Tantra” zeigt eindrücklich: Bildung, kritisches Denken und Achtsamkeit gegenüber Gruppendynamiken sind essenziell. Frauen und Männer müssen befähigt werden, Manipulation früh zu erkennen und sich selbst zu schützen. Nur so kann Spiritualität heilend bleiben – statt zerstörerisch.
Redaktionstipp: Am Donnerstag, dem 30.10 findet in der Superbude Prater (Perspektivstraße 8, 1020 Wien) die Lesung der beiden Journalistinnen statt. Tickets sind ab €8,00 erhältlich.
*Namen geändert

